Kein großer Wurf – Zur neuen Ernährungsstrategie der Bundesregierung

Viele haben lange auf sie gewartet. Jetzt ist sie da, die neue Ernährungsstrategie der Bundesregierung. Wer sich davon den großen Wurf versprochen hatte, muss enttäuscht sein. Herausgekommen ist stattdessen ein Papier im Stil einer Bachelor-Arbeit (Gliederung: gut / Sprache und Inhalt: mangelhaft)  Sechzig Seiten Geschwurbel – darunter wenig Konkretes und Nichts übers nötige Geld. Es beginnt mit einer „Vision“, die da lautet:

„Unser Ernährungssystem ist so verändert, dass sich alle gesund und nachhaltig ernähren können – unabhängig von Herkunft, Bildung und Einkommen. Unser Handeln ist auf Vorsorge anstatt auf Nachsorge ausgerichtet. Im Fokus steht eine stärker pflanzenbetonte Ernährung mit möglichst ökologisch erzeugten, saisonal-regionalen Lebensmitteln und so wenig Lebensmittelabfällen wie möglich. Wir tragen mit unserer Ernährung auch zur Ernährungssicherheit der Zukunft bei.“

Ernährungswissenschaftler, Mediziner und Ernährungsfachkräfte fordern genau das schon seit den 80er Jahren: gesunde Ernährung für alle – unabhängig von Herkunft und Einkommen. Statt einer neuen Vision hätte es zunächst einmal einer Analyse des Versagens, der Versäumnisse und Fehler der Ernährungspolitik während der vergangenen 50 Jahren bedurft. Fakt ist:

  • Die meisten Menschen in Deutschland könnten sich gesund ernähren, wenn sie nur wollten. Sie wollen aber nicht. Dass sie in Zukunft doch wollen, wird zumindest nie unabhängig von Bildung sein. Von den Möglichkeiten, dieses Wollen zu stärken, ist in der Strategie nur am Rande die Rede.
  • Darüber, wie genau „nachhaltige“ Ernährung aussieht, streiten sich noch immer die Experten.
  • Was schließlich das Einkommen betrifft, sind heute glücklicherweise nur ca. 3% der Bevölkerung von Ernährungsarmut betroffen. Immer noch 3% zu viel. Es gibt nur wenige Länder, in denen dieser Anteil so niedrig liegt.

Der „Vision“ folgt viel Politsprech voller vager Ziele und Absichtsbekundungen, formuliert von offensichtlich praxisfernen Ministerialbürokraten. Viele Aspekte, die eine ganzheitliche Ernährungsstrategie zwingend berücksichtigen muss, werden gar nicht oder nur am Rande behandelt. Was man hier vorgelegt hat, geht nicht einmal als halbwegs vollständige Stoffsammlung durch, geschweige denn als Strategie* für die Zukunft. Die folgende Mängelliste ist deshalb nur eine Aufzählung dessen, was dem halbwegs fachkundigen Leser unmittelbar ins Auge springt:

•  Ernährung und Gesundheit, insbesondere Prävention und Therapie ernährungsbedingter Erkrankungen, speziell der Adipositas, werden nur rudimentär behandelt • Wichtige Akteure des Ernährungssystems – wie z.B. Diätassistenten und andere zertifizierte Ernährungsfachkräfte finden als wichtiges ‚Personal‘ für die Umsetzung der Strategie kaum Erwähnung  • Ernährungserziehung und Ernährungssozialisation (..als Prozesse, in die die ganze Familie einbezogen ist) kommen gar nicht erst vor. • Innovative Ansätze sucht man vergebens – Nudging z.B. „soll auf Wirksamkeit überprüft werden.“ …und das wars dann auch schon zu dem Thema. • Um die Ernährungsbildung voranzubringen, soll die Vernetzung von Bund und Ländern (.. bei denen die Kulturhoheit liegt) vorangetrieben werden. Das hat schon in den vergangenen 50 Jahren übehaupt nicht geklappt. Kein Wort darüber, wie man das effizienter gestalten will. •  Es wird der Eindruck erweckt, als müsse zunächst die Ernährungsforschung neu erfunden werden, bevor es mit der Umsetzung losgehen kann – in einem seitenlangen Kapitel wird aufgelistet, was alles noch neu erforscht werden muss. Dabei sollte der Schwerpunkt doch auf Taten statt Studien liegen. • Die Strategie scheint beherrscht von der Angst der Politiker vor dem Wähler (.. noch immer sitzt der Veggie-Day-Schock tief). Beim Thema Lebensmittelverschwendung z.B. wird mit keinem Wort erwähnt, dass die Verbraucher für knapp 60% der Abfälle verantwortlch sind, und dass sich daran nur etwas ändern lässt, wenn die Verbraucher in die Pflicht genommen werden.  • Lebensmittelindustrie, Handel, Erzeuger und andere Akteure der Ernährungswirtschaft werden mit Samthandschuhen angefasst – das Papier ist vom Bemühen beherrscht, möglichst niemandem auf die Füße zu treten.

Am Rezept der Ernährungsstrategie waren zu viele (Hobby-) Köche beteiligt. Das Ergebnis ist schlicht ungenießbar – ein Drunter und Drüber von Zutaten, die unverdaulich – und zudem schwer verständlich sind: Zur eingangs zitierten „Vision“ wäre im Übrigen noch zu sagen: „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen“. Für die Ernährungsstrategen der Bundesregierung und ihre “Vision” trifft das Urteil von Altkanzler Helmut Schmidt ins Schwarze.

 

* Kennzeichen eiiner guten Strategie sind Zielführung, Kohärenz, Stringenz, Transparenz, Replizierbarkeit, Messbarkeit, Adaptierbarkeit.