Wäre es richtiger und besser, vom Überlebensgewicht zu sprechen statt vom Übergewicht? Heute ist europäischer Adipositastag. Passend dazu kommen die Kommentare von Marianne Reiss und Sonja Mannhardt zum gestrigen Blogeintrag über ‚Dicke Frauen – voll auf Risiko‘. Marianne – Ernährungs- und Diättherapeutin aus Braunschweig – stellt dabei die gesellschaftliche Ächtung des ÜBERgewichtes und der übergewichtigen Menschen in Frage.  Zur „Feier des heutigen Tages“ 🙂 ein paar eigene Gedanken, die die Diskussion anregen mögen.

Alle reden davon, dass sich unser Gesundheitswesen hin zu einer personalisierten Medizin entwickeln muss. Die meisten, die davon reden, kommen in der Praxis allerdings vom pauschalen Denken nicht weg – und handeln dementsprechend nach wie vor nach starren Mustern. Das gilt grundsätzlich für die Medizin, die von der Erfüllung dieses Anspruchs in der Praxis meilenweit entfernt ist. Und es gilt speziell natürlich auch für die Ernährungstherapie und –beratung. Was die Adipositas betrifft, scheint mir eine neue Stilisierung der überflüssigen Pfunde zum ‚Überlebens-Gewicht‘ genauso falsch und irreführend wie die pauschale Verteufelung des Übergewichts. Kein Mensch ist wie der andere. Mancher Dicke lebt lustig und froh wie der Mops im Haferstroh – bis an sein spätes Ende. Andere  – und meiner Meinung nach handelt es sich bei denen um den weitaus größeren Teil der Übergewichtigen – treiben parallel zum Wachsen ihrer Leibesfülle in eine Krankheitsspirale (Stichwort ‚Metabolisches Syndrom’).  Es gibt Menschen, die mit sich und ihrem Übergewicht eins sind und dabei gesund bleiben. Es gibt aber auch viele, die gegen ihren eigenen Willen (..oder sagen wir besser Wunsch?) in ihr Übergewicht reinwachsen. Sie würden diesem meist schleichenden Prozess gerne entkommen – schaffen es aber alleine nicht. Darunter sind viele, die das nicht etwa wollen, um einem irrealen, gesellschaftlich gerade angesagten Körperbild zu entsprechen. Sondern die es wollen, weil sie sich jenseits der kurzfristigen Belohnung durch Essen nicht wohlfühlen mit ihrem Übergewicht.

Ernährungstherapeuten sollten diese Vielfalt akzeptieren und sie nach außen kommunizieren. Sie sollten denen helfen, die es wollen und jene in Ruhe lassen, die dick sein und bleiben wollen. Ernährungstherapie und –beratung muss der Forderung der Öffentlichkeit (..damit auch der Medien) nach schwarz-weiß Lösungen, nach Pauschalierungen im Sinne von „dünn ist gut“ und „dick ist böse“ widerstehen und dem Individuum und seiner Befindlichkeit Rechnung tragen. Es ist immer leicht, zu fordern, dass man der Komplexität Rechnung tragen muss – und es ist sehr schwer, das in der Praxis umzusetzen. Gerade Oecotrophologen – viele Ernährungstherapeuten und – berater gehören zu dieser Berufsgruppe – treten mit dem Anspruch an, solchen Aufgaben auf Grund ihrer interdisziplinären Ausbildung gewachsen zu sein. Hier ließe sich der Beweis antreten. Viele versuchen das schon, manche mit mehr, andere mit weniger Erfolg. Was müsste getan werden, von der Ausbildung der Ernährungsberater, von ihrem therapeutischen Werkzeugkasten und von der Beratungsmethodik her, damit man dieser Aufgabe – einer personalisierten Beratung Übergewichtiger auf breiter Ebene – besser gerecht wird? Was kann bzw. muss man aus anderen systemischen Therapiebereichen lernen? Darauf müssen die Experten Antworten geben.

Marianne Reiss scheint der Notwendigkeit der Relativierung und Personalisierung übrigens schon recht nahe zu sein, schließlich stellt sie ihre Arbeit auf ihrer Homepage unter das entsprechende Motto: „Die goldene Regel ist, dass es keine goldene Regel gibt.“ wie es George Bernhard Shaw dereinst so treffend formulierte.