Alles in Butter? – Der Auszug aus dem Interview mit Ulrike Gonder hat die tellerrand-Leserin Marianne Reiss zu einem längeren Kommentar veranlasst, den ich hier als Gastbeitrag veröffentlichen möchte. Die selbstständige Ernährungsberaterin und Diabetesassistentin DDG blickt auf langjährige Erfahrung in der Ernährungsberatung von Diabetikern zurück. Die konnte sie u.a. in DMP-Diabetesschulungen sammeln, die sie 10 Jahre lang für eine Schwerpunktpraxis in Braunschweig durchgeführt hat. Dazu schreibt sie: „Weil ich immer im Sinne des Patienten agiere, habe ich DDG-Emfehlungen bewusst unterlaufen. Mit dem Erfolg, dass viele der Schulungspatienten keine Medikamente mehr brauchten und ihre sämtlichen Laborwerte in den Normbereich zurückkehrten.“ Was die Rolle von Fett in der Ernährung betrifft, ruft Reiss, die auch Mitglied des Kompetenznetz Fettstoffwechsel ist, nicht weniger als zur Palastrevolution auf. Schließlich stellt sie mit ihrem Standpunkt die Empfehlungen nach den Richtlinien der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) komplett in Frage – unter anderem mit Sätzen wie diesem: „Mit dem Rat, vermehrt Kohlenhydrate und wenig Fett zu essen, werden hierzulande Diabetiker auf eine lebenslange Diabeteskarriere eingeschworen und Fettstoffwechselpatienten in ihrer Erkrankung manifestiert.“ Liegt Sie richtig damit? Hier das Statement von Marianne Reiss:

Denn sie wissen nicht, was sie tun

Die kohlenhydratliberale Gesundheitsaufklärung geht inzwischen in ihre 5. Dekade. Verdanken haben wir sie dem charismatischem Volker Pudel, der als damaliger Präsident der DGE zum Gummibärchenessen und Fettaugenzählen aufforderte. Schon damals gab es keine gesicherten Untersuchungen zum Wahrheitsgehalt dieser Aussagen. Wer es wagte, die Richtigkeit anzuzweifeln, wurde als Außenseiter und Scharlatan denunziert. Wie seinerzeit beim Butter-Margarine-Streit wurde auch bei der Frage nach dem gesundheitlichen Wert einer fettarmen Ernährung mit harten Bandagen gekämpft. Ulrike Gonder und Nicolai Worm liefern in ihrem Buch Mehr Fett die Hintergrundgeschichte wie es zu den noch heute gültigen DGE-Empfehlungen kam. Jede/r in der Gesundheitsaufklärung Tätige sollte sie zumindest gelesen haben, um sich ein eigenes Urteil zu bilden. Und jeder, der Menschen zum Life- und Ess-Stil berät, sollte wissen, was er/sie tut und sich nicht allein auf die derzeit gültige Lehrmeinung verlassen.

Zertifizierte Ernährungsfachkräfte, die für Krankenkassen Abnehmkurse und Beratungen anbieten, stehen in der Pflicht, ihre Aussagen auf den Boden der DGE-Empfehlungen zu stellen. Das Problem ist jedoch, dass die meisten hochgewichtigen Menschen jenseits der vierzig gleichzeitig auch eine Stoffwechselstörung haben. Es handelt sich also bei diesen Kursen nicht generell um gesunde Menschen wie es immer wieder von den Anbietern postuliert wird. Oft bestehen gravierende Fettstoffwechsel- und Glukosetoleranzstörungen. Nur selten wissen die Teilnehmer davon oder glauben zumindest, sie müssten einfach nur abnehmen, um ihre Probleme in den Griff zu bekommen. Mit einem fettarmen und kohlenhydratreichem Essen können viele vielleicht etwas abnehmen, sie verschlimmern jedoch eine bestehende Stoffwechselstörung. Hohe Triglyceride bekommt man nicht durch Fettverzehr, sondern bei bestimmten Voraussetzungen durch die Bevorzugung von Kohlenhydraten. Insulinresistenz wird besonders durch den Verzehr von zu vielen und hochglykämischen Kohlenhydraten gefördert. Mit dem Rat, vermehrt Kohlenhydrate und wenig Fett zu essen, werden hierzulande Diabetiker auf eine lebenslange Diabeteskarriere eingeschworen und Fettstoffwechselpatienten in ihrer Erkrankung manifestiert.

Wir sollten nicht darauf warten, dass dieses Problem gesundheitspolitisch gelöst wird. Der Gesundheitsmarkt floriert ja gerade durch den jetzigen Status quo. Ein Schelm, der Böses dabei denkt. Was also ist zu tun? Ernährungsfachkräfte sollten sich ihrer herausragenden Rolle bewusst werden. Wir dürfen nicht als Erfüllungsgehilfen der Krankenkassen Kurse anbieten, die die meisten unserer Teilnehmer nicht gesünder machen. Ob jemand kohlenhydratreich und fettarm oder eher fettreich und kohlenhydratarm essen sollte, darf keine Frage der Politik sein. Sie muss anhand der Laborwerte in jedem individuellen Fall entschieden werden. Wenn Kursleiter oder Berater nicht wissen, wer mit welchem Stoffwechselproblem den Kurs besucht, dann sollte zumindest das Prinzip „vor allem nicht schaden“ gelten. Damit wären nur noch sehr wenige Teilnehmer jenseits der vierzig so gesund, dass sie durch die allgemeinen Empfehlungen profitieren können. Es wäre zu überlegen, allgemeine Abnehmkurse von der Angebotsliste der Krankenkassen zu streichen und im Gegenzug mehr Geld für differenzierte Beratungsangebote auszugeben. Das wäre wahrscheinlich längst passiert, wenn die Anbieter solcher Kurse für die Schäden, die sie anrichten, regresspflichtig gemacht werden könnten.
Marianne Reiss