tellerrand Interview: Hanni Rützler im Gespräch

mit Dr. Friedhelm Mühleib / 2. Teil

 

Im ersten Teil meines Interviews  mit Hanni Rützler sprach die Österreichische Ernährungswissenschaftlerin und Zukunftsforscherin  über Mega-Trends und den Stellenwert von Essen und Trinken, über  Phänomene wie „glutenfrei“, „frei von…“ , und Superfood sowie den damit verbundenen Wunsch der Menschen nach Kontrolle über das, was sie zu sich nehmen. Im folgenden zweiten Teil des Interview u. a. um die Frage, ob und was die Ernährungswissenschaft zum Entstehen neuer Ernährungstrends beitragen kann.

 

Hanni Rützler, Ernährungswissenschaftlerin und Trendforscherin: Das Klagen über unsere Ernährung ist Jammern auf hohem Niveau.

 

tellerrand: Food-Trends lesen sich oft wie eine Vorschau auf ein nachhaltiges und genussvolles Schlaraffenland. Ist das nicht manchmal des Positiven zu viel?

 

Rützler: Wer in der Trendforschung einen lösungsorientierten Ansatz vertritt, kann nicht wie ein Untergangsprophet argumentieren. Deshalb ist mein Umgang mit Trends ein bewusst positiver Blick in die Zukunft. Wer meine Trend-Reports so liest, als hätte der Food-Bereich keine Probleme mehr, interpretiert sie vom falschen Ende. Der Vorwurf, Dinge zu positiv zu sehen, hängt mit einem schwer auszurottenden Phänomen unseres Kulturraums zusammen: Dem Jammern auf hohem Niveau – das man in Wien als gewissen ‚Grundgrant‘ bezeichnet. In Deutschland wird ein bisschen anders gejammert, aber auch dort gehört Jammern immer dazu. Wir leben in der besten aller Welten und trotzdem wollen wir immer noch alles schneller, billiger und mehr – begleitet von der Angst, dass alles schlechter und teurer wird, dass wir zu kurz kommen könnten. Die Welt durch diese Brille zu betrachten, ist nicht mehr zeitgemäß. Ein gelegentlicher Wechsel der Perspektive kann da sehr heilsam und hilfreich sein – etwas durch den Einsatz für Menschen, die am Rande leben. Es kann sehr bewusstseinsverändernd sein, bei der Flüchtlingshilfe eine Zeit lang Essen auszugeben. Man begreift dann plötzlich, was man hat – und hört auf, nur auf das zu blicken, was man verlieren könnte. Für mich ist Essen und die Auseinandersetzung damit ein ganz großes und wichtiges Stück Lebensqualität. Das zu fördern und zu leben, ist für mich eine große Herausforderung. Aber gleichzeitig ist es eine wunderbare Aufgabe.

 

tellerrand: Auch wenn man dieser Haltung zustimmt, hören sich viele der von Ihnen postulierten Trends etwas realitätsfern an. 

 

Rützler: Tatsächlich ist die Frage tatsächlich berechtigt, wie elitär Food-Trends sind. Warum kann die Marktforschung kaum einen dieser Trends mit Zahlen belegen? Dazu kann ich nur sagen: Ja, Food-Trends sind elitär. Das liegt aber in der Natur der Sache: Trends entstehen immer in kleinen Gruppen hochgradig vernetzter Menschen mit großem Engagement für das jeweilige Thema. Wohin die sich entwickeln, ist das eigentlich Spannende für mich. Mich interessieren die Antworten, die diese ‚Kernzellen der Veränderung‘ für aktuelle Themen, Probleme und Sehnsüchte finden. Ob es ein solches Thema dann in den Supermarkt schafft oder nur in die Markthallen – das ist schwierig einzuschätzen. Zum anderen kann weder ein Ernährungsbericht Food-Trends vermessen, noch kann die Betrachtung aktueller Konsumdaten zu Fleisch, Gemüse oder Obst darüber Aufschluss geben, wie sich das Verzehrsverhalten der Verbraucher verändert. Bis sich Trends in den Konsum- und Umsatzzahlen niederschlagen, können Jahrzehnte vergehen. Der fundamentale Wandel vom Peak-Meat – dem Punkt des höchsten Fleisch-Konsums pro Kopf und Jahr – bis zu dem Punkt, an dem das Gemüse von einer Mehrheit als Hauptspeise wahrgenommen wird, das wird noch eine Zeit dauern.

 

tellerrand: Was kann die Ernährungswissenschaft jetzt und in Zukunft zum Wandel rund um Essen, Trinken, Ernährung beitragen? 

 

Rützler: Die Ernährungswissenschaft müsste sich zum Ziel setzen, die Logik der verschiedenen Akteure zu verstehen und zusammenzuführen – angefangen von der Landwirtschaft über Industrie und Handel bis hin zu Gastronomie und Gemeinschaftsverpflegung. Das wäre nötig, um die Dynamik zu verstehen, aus der heraus ein Ernährungstrend entsteht. Ursprünglich war die Ernährungswissenschaft genau dafür konzipiert. Heute kann das Studium den multidisziplinären Anspruch kaum mehr erfüllen. Die große Herausforderung für die Ernährungswissenschaft besteht meines Erachtens darin, Essen auch als Kulturphänomen zu begreifen und dieses komplexe Thema mit den angrenzenden Wissenschaften gemeinsam aufzuarbeiten. Ich wünsche mir da viel mehr und engere Kooperation und Zusammenarbeit der verschiedenen Wissenschaften. Dafür wäre die Ernährungswissenschaft prädisponiert. Auf die Esskultur der jeweiligen Zielgruppe oder des Individuums geht sie derzeit allerdings so gut wie gar nicht ein.

 

tellerrand: Hat die Praxis der Ernährungswissenschaft – die Ernährungstherapie und –beratung vielleicht sogar besseren Zugang zum Verständnis der Esskultur?

 

Rützler: Der Beratung fehlen eigentlich noch immer die Werkzeuge für einen wirklich individuellen Ansatz. Nur mit Zeigefinger und reiner Aufklärung kommen wir überhaupt nicht mehr durch. Es geht darum, sich wertschätzend mit dem Essalltag der Menschen auseinanderzusetzen und auf Augenhöhe zu kommunizieren. Die Ansprüche der Klienten sind viel höher, als das, was die Ernährungsberatung erfüllen kann. Für die Aufgaben und Fragen im großen Gebiet der Esskultur ist die derzeitige Ernährungswissenschaft nicht gerüstet. Da wird viel zu eng gedacht. Darin liegt ein zentrales Problem. Grundsätzlich hat die Ernährungswissenschaft viel an Macht gewonnen, aber den großen Sprung in die Gesundheitspolitik vermisse ich. Da fehlen derzeit vor allem die Köpfe, die die Esskultur in diese Debatte mitnehmen.

 

tellerrand: Was sind die Gründe, dass der Alltag der Ernährung – die Esskultur – von der Wissenschaft kaum wahrgenommen wird?

 

Rützler: Das liegt u. a. daran, dass die Logik des Konsumenten eine andere als die der Wissenschaft ist. Er stellt sich ja nicht die Frage nach den Nährwerten und deren Bewertung. Seine Fragen resultieren aus dem realen Ernährungsalltag: Was koche ich heute? Koche ich heute überhaupt? Was tut mir gut? Was schmeckt mir? Und wie kriege ich das unter dem Zeitdruck irgendwie hin? So bastelt sich der Verbraucher im Laufe der Jahre seine eigene Ernährungsphilosophie, die u. a. viel mit der Esstradition seiner Familie, seinen Esserfahrungen und seiner Lebenssituation zu tun hat. Und dabei entscheidet er, was er für richtig hält und was er für falsch hält – und wenn er nicht sicher ist, wird gegoogelt, anstatt einen Ernährungsexperten aufzusuchen, weil er dem eine praktikable Lösung nicht zutraut.

 

tellerrand: Was wären denn praktikable Lösung ?

 

Rützler: Im Grunde geht es darum, den Menschen keine Angst vorm Essen zu machen, sondern sie zu motivieren, mit Genuss und Lebensfreude den Luxus, in dem wir leben, zu genießen. Es ist doch ein großer Segen, jetzt und hier zu leben und essen zu können, was man will. Stattdessen fördern wir ein schlechtes Gewissen. Das ist mir oft zu negativ. Ich würde mir wünschen, dass wir erkennen, wie viel Positives die Esskultur bietet und welche Chancen in der Auflösung der traditionellen Esskultur, dem Auflösen der Mahlzeiten und anderer Rituale liegen. Da vollzieht sich ein umfassender Wandel, der  für mich eines der spannendsten gesellschaftlichen Themen ist. Als Naturwissenschaftler neigen leider viele von uns dazu, zu oft durch die negative Brille zu schauen und mehr auf Probleme als auf Lösungen zu fokussieren.

Das Gespräch führte Dr. Friedhelm Mühleib

 

Zur Person: Hanni Rützler besuchte das Sacré-Coeur in Bregenz (Matura 1981) und begann nach einem einjährigen Studienaufenthalt in den USA (Michigan Technological University, Houghton) mit dem Studium der Haushalts- und Ernährungswissenschaften, Psychologie und Soziologie sowie Lebensmittel- und Biotechnologie an der Universität Wien (Abschluss als Mag. rer. nat. im Jahre 1988). Neben einer Ausbildung in Personenzentrierter Gesprächsführung (Abschluss 1991) war sie Mitarbeiterin am interdisziplinären Forschungsprojekt „Ernährungskultur in Österreich“ am Institut für Kulturstudien (IKUS). Seitdem arbeitet sie als freiberufliche Ernährungswissenschafterin, als Beraterin von Food & Beverage-Unternehmen und als Food-Trend Forscherin im von ihr gegründeten futurefoodstudio in Wien sowie – seit 2004 – auch als Studienautorin und Referentin für das Zukunftsinstitut von Matthias Horx in Frankfurt am Main und Wien. Seit 2014 veröffentlicht sie in Kooperation mit der Lebensmittelzeitung und dem Zukunftsinstitut den jährlich erscheinenden FOODREPORT, der inzwischen als wichtiger Trendbarometer für die Lebensmittelwirtschaft gilt.

Foto: © Futurefoodstudio – Hanni Rützler

(Erstveröffentlichung des Interviews in VDOE POSITION Heft 01-2017)

 

 

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