tellerrand-Interview:

Hanni Rützler im Gespräch mit Dr. Friedhelm Mühleib

 

Kaffeesatzleser und andere selbsternannte Food-Propheten haben jetzt  wieder Hochkonjunktur. Im alljährlichen Ritual nach dem Jahreswechsel überbieten sich Foodblogger, Feinschmecker und Gastro-Experten mit Plattitüden zu den Food Trends für das Jahr 2018. Dabei stochern die meisten im kulinarischen Nebel oder werden zum Opfer ihrer blühenden Phantasie. Einige davon sind zumindest unterhaltsam und belustigen das Publikum – mit echter Trendforschung hat das jedoch alles recht wenig zu tun. Tatsächlich gibt es jenseits der Prognosen zum neuen Jahr eine ernsthafte Trendforschung, die sich seriös mit der Frage beschäftigt, was, wo und wie wir in Zukunft essen und trinken werden. Wer sich mit Food-Trends beschäftigt, kommt dabei an der österreichischen Ernährungswissenschaftlerin Hanni Rützler nicht vorbei. Sie gilt als Vordenkerin der Food-Branche, Pionierin der Ernährungswissenschaft und Forscherin mit multidisziplinärem Zugang zu Fragen des Ess- und Trinkverhaltens. Seit vielen Jahren hat sie sich – in enger Zusammenarbeit dem deutschen Zukunftsforscher und Leiter des Zukunftsinstituts Mathias Horx – auf ein ungewöhnliches und spannendes Metier spezialisiert: Als Trendforscherin verbindet sie ihr originäres naturwissenschaftliches Know-how mit kulturwissenschaftlichen Ansätzen und einem leidenschaftlichem Interesse an Zukunftsfragen. Ihre Beschäftigung mit Trends und neuen Entwicklungen rund um Lebensmittel, Essen und Trinken im Rahmen des gesellschaftlichen Wandels macht sie zu einer gefragten Beraterin, Autorin und Rednerin auf internationaler Bühne – weit über den deutschsprachigen Raum hinaus. Mit Dr. Friedhelm Mühleib sprach sie über die Einschätzung aktueller Entwicklungen wie „frei von“ und die Rolle von Food-Trends wie saisonal, regional und „frei von“ als klassische Gegenbewegung der Menschen auf Mega-Trends wie die Globalisierung.

 

Hanni Rützler, Ernährungswissenschaftlerin und Trendforscherin: „Frei von ist ein Phänomen von begrenzter Haltbarkeit.“

 

tellerrand: Ich vermisse die Glaskugel auf Ihrem Schreibtisch, Frau Rützler.

 

Rützler: Wenn Sie die suchen, dann sind Sie hier falsch. Ich spüre Trends auf und analysiere sie – das hat nun rein gar nichts mit Hellseherei zu tun. Food-Trends wie ich sie definiere sind keine Visionen, sondern Lösungsversuche für reale Probleme. Statt in die Glaskugel zu schauen betrachte ich den Wandel der Esskultur und analysiere, wo neue Probleme auftauchen und wo daraus neue Sehnsüchte oder Wünsche nach Veränderung entstehen. Dann mache ich mich auf die Suche nach Lösungen.    Für meine Arbeit liegt die Kunst darin, neue Phänomene möglichst frühzeitig wahrzunehmen und zu dokumentieren – mich dabei aber gleichzeitig in Geduld zu üben: darin, noch nicht gleich zu verorten, was da passiert; den Dingen nicht gleich einen Namen zu geben; das erstmal auszuhalten und zu schauen, was daraus wird, ob die Entwicklungen Raum greifen. Ob das flüchtige Erscheinungen sind oder doch Kulturphänomene, stellt sich in der Regel erst nach einer gewissen Zeit heraus. Diese Prozesse zu erkennen und zu beschreiben, das ist die große Herausforderung für mich. Sobald ich also neue Trends, Themen, Entwicklungen registriere, gehe ich bereits über zum nächsten Schritt: Zur Suche nach Lösungen

 

tellerrand: Sie sagen, dass Trends mit Sehnsüchten nach Neuem verbunden sind. Dabei scheint es doch so, als seien Trends oft mehr von Ängsten als von Sehnsüchten getrieben?

 

Rützler: Der gesellschaftliche Wandel wird aus Sicht der Trendforschung  von Mega-Trends getrieben. Sie sind die Blockbuster des weltweiten Wandels, die ganz großen Antriebskräfte für Veränderung. Individualisierung, Konnektivität, Globalisierung, Bildung, Wandel der Arbeitswelt gehören dazu. Das Zukunftsinstitut hat „Sicherheit“ vor zwei Jahren zum ersten Mal in die Liste der Megatrends aufgenommen – und gleichzeitig die Bezeichnung für einen weiteren Mega-Trend modifiziert: „Female-shift“ – der Wandel der Frauen – wurde in „Gender-Shift“ umbenannt, weil der Bildungsschub der Frauen langfristig auch das Rollenverhältnis der Geschlechter verändert. Das sind zwei Veränderungen, die neuen Akzente bei den Mega-Trends setzen. Die Megatrends wirken als massive Kräfte, die sich auf alle Branchen auswirken – und dabei natürlich auch auf die Ernährung. Hinter dem Bedürfnis nach Sicherheit stehen natürlich auch Ängste. Angst ist schließlich ein fundamentales menschliches Gefühl. Es ist leicht nachvollziehbar, dass die Sicherheit in unserem Kulturraum gerade auch rund um Essen und Trinken ein wichtiges Thema geworden ist. Dahinter steht ein großer Vertrauensverlust, der sich vor allem an der industriellen Lebensmittelproduktion festmacht: Alles, was groß, schnell, billig und heimatlos ist, wird grundsätzlich erst mal kritisch beäugt. Vor das Vertrauen ist heute erst mal das Misstrauen gesetzt.

 

tellerrand: Klein, slow, saisonal, regional – zurück zur Heimat. Ist das in Zeiten der Globalisierung nicht ein Wiederspruch? Wie erklärt sich das aus Sicht der Trendforschung?

 

Rützler: Im Kontext der Mega-Trends sind Gegen-Trends ein mächtiges Phänomen. Jeder Trend zieht einen Gegen-Trend nach sich. Manchmal sind das nur kleine Verwirbelungen, manchmal werden dabei große Kräfte wirksam. Im Grunde ist die Geschichte der Menschheit eine Geschichte der Globalisierung. Sie ist ein Mega-Trend, der uns Menschen schon seit Jahrtausenden begleitet. Bei den Warenströmen und Dienstleistungen ist dieser Trend in den letzten Jahrzehnten geradezu explodiert. Im Food-Bereich ist z. B. das Regionale die Antwort auf die Globalisierung. Was da gerade passiert, habe ich im Food-Report 2017 als „Brutal-Lokal“ beschrieben – zu einem Zeitpunkt, als alle schon meinten, der Trend zum lokalen Essen sei passé. Tatsächlich steht er immer noch am Anfang. Regional entwickelt sich permanent weiter und wird zu ‚brutal-lokal‘. Globalisierung und Lokalisierung sind auch keine Feinde – sie schärfen sich gegenseitig: Während die Globalisierung voranschreitet wächst parallel dazu die Sehnsucht der Menschen nach Heimat, nach einer Besinnung auf die Dinge aus der Region. Lebensmittel gehören in vorderster Linie dazu. Regional ist eine Bestätigung der These vom Mega-Trend, der die Gegenbewegung provoziert. Das ist eigentlich wie aus im Lehrbuch der Trendforschung.

 

tellerrand: Noch einmal zurück zu den Ängsten, die gerade im Ernährungsbereich Wirkung zeigen, wenn es um die Geburt neuer Trends geht. Ist der Hype um Produkte „frei von“ Gluten, Lactose, Allergenen und anderem mehr nicht zu großen Teilen angstgeboren? Dabei geht es ja u. a. auch um Substanzen, die völlig natürlich sind.

 

Rützler: Man muss sehr genau unterscheiden: Was ist ein Food-Trend und was ist allenfalls Trend-Phänomen. „Gesundheit‘ ist ganz klar ein Megatrend. Gluten- und lactosefrei bewegen sich dagegen auf viel niedrigerer Flughöhe. „Frei von..“ ist für mich ein Phänomen von begrenzter Haltbarkeit, das nicht überdauern wird – zu kurzfüßig, um ein prägender Trend zu werden. Erinnern wir uns an die Light-Produkte. Die wurden in den 90ern vor allem von den Medien der Lebensmittelwirtschaft zum großen Trend stilisiert. Geblieben ist eine überschaubare Range sensorisch interessanter Produkten, darunter diverse Light-Getränke – das war’s dann auch schon. Light fand damals vor dem Hintergrund der großen Kalorien-Debatte statt mit dem Figurthema im Zentrum. Bei „ frei von..“ und Co. geht es stattdessen vor allem um Kontrolle. Inzwischen leben Produkte davon, dass draufsteht, was alles nicht drin ist. Das nimmt schon abstruse Formen an. Inzwischen haben viele daraus den Schluss gezogen, dass das Weglassen eines Problems oft die Lösung ist. Die Allergen-Kennzeichnung ist ein gutes Beispiel dafür. Alles, was sich schlecht aussprechen lässt und irgendwie dubios klingt, wird im Zusammenhang mit dem generellen Vertrauensverlust im spätindustriellen Zeitalter unter Generalverdacht gestellt. Als Trendforschers muss ich mich gedanklich über dieses Phänomen erheben und schauen, zu welcher Art von Wandel das führen kann. Aus meiner Perspektive befinden wir uns momentan im Übergang vom spätindustriellen Zeitalter zum Wissenszeitalter. „Frei von“ mit all seinen verschiedenen Facetten ist für mich in dieser Lernkette angesiedelt. Dabei ist meine Frage nicht: Was wird als Nächstes weggelassen, sondern vielmehr: Was kommt danach?

 

tellerrand: Ist der Hype um „frei von“ demnach nur als ein vorübergehendes Phänomen zu sehen, das spätestens mit Eintritt ins Wissenszeitalter wieder weitgehend verschwindet?

 

Rützler: Eine derart lineare Sicht, die so stark vereinfacht, wird der Komplexität der Sache nicht gerecht. Man muss Trends verstehen, um mit ihnen arbeiten zu können: Manchmal benutzt der Trend ein Thema als Mittel zum Zweck. Das zu erkennen, ist nicht einfach. Bei „glutenfrei“ z.B. darf man auf die Entwicklung gespannt sein. Hinter „glutenfrei“ steht im Grunde das Problem der enormen Konzentration beim Getreideanbau auf den Weizen mit verrückt großen Anbauflächen. Das ist eine ungesunde Fokussierung des Marktes. Darin liegt schon der Keim für die Gegenbewegung, die sich momentan am Gluten festmacht. Ein Trend kann aber ganz schnell die Richtung ändern – etwa weg vom „free-from“ hin zu Nachhaltigkeit oder Sensorik. Wenn es den „glutenfrei“-Herstellern gelingt, mit alten Getreidesorten neue Brote in geschmacklich ansprechender Qualität zu entwickeln, kann das sehr wohl funktionieren. Aber dann geht es weniger um das Gluten, als um den Aspekt der Bewegung weg von der Monokultur Weizen.

 

tellerrand: Wäre dann nicht Superfood die Gegenbewegung zu ‚frei von‘? Schließlich erwarten viele Verbraucher von Superfood in geradezu naiver Leichtgläubigkeit wahre Wunder.

 

Rützler: Superfood ist für mich eine typische Gegenreaktion zum Functional-Food, das übrigens im deutschsprachigen Kulturraum nie wirklich funktioniert hat – im Gegensatz etwa zu Spanien, Italien und z. T. auch Nordeuropa. Functional Food war der Versuch, Produkte mit etwas anzureichern, um sie gesünder zu machen. Superfood sind das genaue Gegenteil: Gesunde Produkte, die man bedenkenlos isst – aus einer großen Sehnsucht nach Natürlichkeit heraus und zudem aufgeladen mit regionalen Traditionen und Mythen. Aber eben ohne Zutun der Naturwissenschaften und der Lebensmittelindustrie. Wo es um Food geht haben wir im deutschsprachigen Raum eine große Technologiefeindlichkeit. Das ist nicht überall so. Auch der Bio-Landbau ist ein Kind unseres Kulturraums. Inzwischen ist das ein weltweites, sehr erfolgreiches Phänomen, das aber auch als Gegenbewegung zur Industrialisierung zu verstehen ist. Im spätindustriellen Zeitalter wird man meiner Überzeugung nach den Begriff der Lebensmittelqualität noch einmal ganz neu und fundamental hinterfragen.

 

tellerrand: Was ist denn der heutigen Definition von Lebensmittelqualität noch hinzuzufügen?   

 

Rützler: Ich denke da z. B. an die Dimension der Esskultur. Welche Rolle die spielt, lässt sich gut am unserem Verhältnis zum Fleisch beobachten. Die Entwicklung weg vom Fleisch und hin zum Vegetarismus ist für mich kein Trend. Es geht dabei stattdessen um einen massiven Wandel der Esskultur. Fleisch war jahrhundertelang eine Leitsubstanz und als Hauptspeise definiert, die alle anderen Lebensmittelgruppen zur Beilage degradiert hat. Inzwischen hat es bei uns den Peak-Meat überschritten. Dagegen schauen wir im Moment liebevoller denn je zum Gemüse. Pflanzliche Nahrungsmittel erfahren eine ungeahnte Wertschätzung, weil das Fleisch seine Rolle als Leitsubstanz zunehmend einbüßt. Dieser Wandel ist ein sehr schönes Beispiel für den Paradigmenwechsel in der Gegenwart. Ein neuer Begriff von Lebensmittelqualität muss zudem die großen Zukunftsthemen wie Nachhaltigkeit, Ressourcen, Energie oder Wasser mit einbeziehen. Die Fleischproduktion hat dabei sehr schlechte Karten.

 Das Gespräch führte Dr. Friedhelm Mühleib

 

Zur Person: Hanni Rützler besuchte das Sacré-Coeur in Bregenz (Matura 1981) und begann nach einem einjährigen Studienaufenthalt in den USA (Michigan Technological University, Houghton) mit dem Studium der Haushalts- und Ernährungswissenschaften, Psychologie und Soziologie sowie Lebensmittel- und Biotechnologie an der Universität Wien (Abschluss als Mag. rer. nat. im Jahre 1988). Neben einer Ausbildung in Personenzentrierter Gesprächsführung (Abschluss 1991) war sie Mitarbeiterin am interdisziplinären Forschungsprojekt „Ernährungskultur in Österreich“ am Institut für Kulturstudien (IKUS). Seitdem arbeitet sie als freiberufliche Ernährungswissenschafterin, als Beraterin von Food & Beverage-Unternehmen und als Food-Trend Forscherin im von ihr gegründeten futurefoodstudio in Wien sowie – seit 2004 – auch als Studienautorin und Referentin für das Zukunftsinstitut von Matthias Horx in Frankfurt am Main und Wien. Seit 2014 veröffentlicht sie in Kooperation mit der Lebensmittelzeitung und dem Zukunftsinstitut den jährlich erscheinenden FOODREPORT, der inzwischen als wichtiger Trendbarometer für die Lebensmittelwirtschaft gilt.

Foto: Thomas Wunderlich, © Futurefoodstudio – Hanni Rützler

Der zweite Teil des Interviews mit Hanni Rützler folgt demnächst hier auf dem tellerrand.

(Erstveröffentlichung des Interviews in VDOE POSITION Heft 01-2017)