Gestern im ICE: Zuglektüre – ein Blick in den Boulevard. „Chaos um Killer Keime“ titelt die BILD. Der Kölner EXPRESS hält locker mit und stellt die Gewissensfrage: „EHEC Chaos- Was können wir noch glauben?“   Die Frage unterstellt, dass wir belogen werden. Und damit auch, dass irgend jemand die Wahrheit kennt oder kennen sollte. Was können wir noch glauben? Darin steckt auch geballte Ungeduld: Sagt uns endlich die Wahrheit!   Wir haben ein Recht darauf. „Bürger total verunsichert“ stellt BILD fest und fragt zwischen den Zeilen: Wer ist schuld an der neuen Menschheitsplage, der „neuen Seuche“ (O-Ton Spiegel)? Die Bundesregierung, die müsste es doch wissen! Wer, wenn nicht die zuständigen Minister! Frau Aigner, Herr Bahr, präsentieren Sie  uns endlich die Schuldigen. Wozu haben die in Berlin ihren Hofstaat , die Institute mit all den schlauen Wissenschaftlern? Was tun die Kerle? Sind das alles Däumchen drehende Penner, wie Frau Künast unterstellt?

Die Medien spielen das Thema  nach einer wohlbekannten Dramaturgie – der  „Suche nach dem Serienmörder“.  Während sich der Killer täglich neue Opfer sucht, tappen unfähige Verantwortliche  bei der Suche nach dem Täter im Dunkeln. Angst und Schrecken breiten sich im Volke aus und täglich wird die Forderung  lauter:  ‚Tut was! Fasst den Täter‘.  Wer einmal in den Fokus der Fahnder kommt, ist erledigt. Verdächtigen haftet die Aura von Aussätzigen an.  Schließlich könnte doch auf jeder Gurke,  Tomate oder Sprosse der Tod lauern. In  dubio contra reo.  Die Gesundheit ist nun wirklich zu kostbar, um sie wegen Gurken und Tomaten aufs Spiel zu setzen. Für die Medien und speziell den Boulevard ist das ein gefundenes Fressen. Wenn die Angst den Verstand frisst, lässt sich die Auflage in schwindelnde Höhen treiben.

Dabei ist die Schuldfrage längst geklärt. Niemand will den Täter sehen, weil er über jeden Verdacht erhaben scheint. Schuld ist: die Natur.  Der moderne Mensch hält sie für gut und glaubt, er müsse sie behüten und schützen. In Wahrheit setzt  sie ihre Brut seit eh und je dem Recht des Stärkeren aus- und amüsiert sich über den Irrglauben des Menschen, sie sei ihm untertan. Ihr Prinzip ist die Evolution, und zur Evolution gehört, dass das Schwache untergeht. Wobei das Starke  winzig klein sein kann.  Für den moderne Menschen, der sich für die Krone der Schöpfung hält, ist das nur  schwer zu verstehen, wie man am Beispiel EHEC sehen kann.  Ein winziger Keim spielt Hase und Igel mit uns,  hält die Wissenschaft  zum Narren  und befördert schließlich viele Betroffene unter höllischen Schmerzen ins Jenseits. Wie kann das sein? Das darf nicht sein. Dagegen muss man doch was tun können. Es ist aber so, und es wird so bleiben. Und wir können sicher sein:  Nach  EHEC lauert um die Ecke schon der nächste bitterböse  Keim.

Kehren wir zum EXPRESS zurück: Was können wir noch glauben? Wir können fest daran  glauben, dass unser Schicksal bei aller Hybris permanent am seidenen Faden hängt. Wer klug ist, kann aus diesem Glauben Konsequenzen für sein Leben ziehen: Carpe diem!