Der Vorschlag der Grünen, einen Veggie-Day in Kantinen einzuführen (siehe auch den gestrigen Blogeintrag), hat unglaublichen Wirbel entfacht und ganze Shitstürme im Web ausgelöst. Prof. Christoph Klotter, Ernährungspsychologe an der Universität Fulda, analysiert im Gespräch mit Friedhelm Mühleib die Gründe, die hinter dem öffentlichen Aufschrei stehen:

Mühleib: Wie lässt sich so viel Aufregung um ein bisschen weniger Fleisch in unserem Ernährungsalltag erklären?

aid_forum_2013_04[1]Prof. Christoph Klotter © R. Schubert, aid infodienst
Klotter:  Der Veggie-Day wird von vielen als Reglementierung in einem sehr intimen Bereich erlebt. Sexualität und Essen sind für uns Menschen die zwei entscheidenden intimen Bereiche. Man stelle sich jetzt vor: Die Bundesregierung erlässt ein Gesetz, nach dem die Krankenkassen Bonuspunkte an Mitglieder verteilen, die hinreichend Sex nachweisen, weil der gesundheitsfördernd ist. Das würden wir als total absurd empfinden. Freitag wird zum Sex-Day – an dem es alle machen müssen.   Unvorstellbar! Im Bereich der Ernährung lösen derartige Vorschläge und Reglementierungen – speziell bei Männern – schnell wütenden Protest aus – weil sie sich bevormundet und überreglementiert fühlen vom Staat. Das wird als Eingriff in die Freiheitsrechte wahrgenommen.

Mühleib: Ist das ein Warnschuss für Parteien jeglicher Couleur, die unseren Ernährungsalltag durch Veggie-Tage, Fettsteuern oder ähnliche Maßnahmen im Rahmen einer Verhältnisprävention beeinflussen wollen?

Klotter: Freiheit wird in Deutschland unter anderem über die Freiheit des Essens definiert. Jeder Politiker, der da versucht, einen Pflock einzuschlagen, muss mit größtem Widerstand rechnen. In Deutschland ist so was nicht machbar – und schon gar nicht vor Wahlen.

Mühleib: Schaut man die Tweets und Kommentare im Netz an, kommen die tatsächlich überwiegend von Männern. Warum fühlen die sich besonders provoziert?

Klotter: Das Thema Ernährung wird als weiblich dominiert wahrgenommen. Das beginnt mit der Mutter und dem gesunden Salat und endet mit der Ehefrau, die versucht, ihren Mann zu überzeugen, weniger Fleisch zu essen. Ernährungswissenschaft ist ein weiblicher Diskurs der Mäßigung, des Maßes.  Den Männern bereitet das Unmut, weil sie sich hier einem weiblichen Regime unterworfen sehen. Jeder Mensch ist zu Beginn seines Lebens einem Regime unterworfen – dem seiner Mutter. Deswegen ist das emotional extrem besetzt.

Mühleib: ..und Renate Künast wird jetzt wahrgenommen als reglementierende Mutter der Nation?

Klotter: Richtig! Die vermutete Bevormundung ist das, was diese Diskussion so auflädt und anheizt. Das passiert in einem Umfeld, in dem wir uns eh schon von wahnsinnig vielen Zwängen umstellt sehen. Max Weber hat von einem stahlharten Kreuz der Moderne gesprochen – und lag damit ganz richtig: Wir leben in einem Korsett – zu dem auch all die Gesundheitszwänge gehören. Auch die haben massiv zugenommen. Deswegen ist es nur zu verständlich, warum auf neue, zusätzliche Zwänge komplett ablehnend reagiert wird. Das hat dann oft –wie vermutlich auch beim Veggie-Day – nur bedingt etwas mit dem Inhalt zu tun.

Mühleib: Im Verhältnis zur gerade offenkundig geworden Bespitzelung des Bürgers durch NSA und Co. nimmt sich die Zumutung durch einen Veggi-Day wie eine Lapalie aus. Während die meisten das Abhören stillschweigend hinnehmen, bricht über einen harmlosen Veggie-Day ein Sturm der Entrüstung los.

Klotter: Bei NSA ist die unbewusste Angst um den Verlust unserer Sicherheit wohl bei den meisten größer als die Wut über die Bespitzelung. Die Ängste vor Terroranschläge reduzieren die Bedürfnisse nach Datensicherheit. Das führt bei vielen zu einer Haltung mit absurden Zügen: ‚Bei mir können die ruhig reinschauen, ich habe doch nichts zu verbergen.‘ Ich beteuere meine Unschuld und akzeptiere darüber den Eingriff. Dabei ist die Kontrolle durch das Abhören ein echter Eingriff. Verglichen damit ist der Veggietag tatsächlich eine harmlose Angelegenheit.

Mühleib: Spielt bei dem Aufschrei gegen die Einschränkung auch eine Art von kollektivem Unbewusstem mit, das uns beim Essen und Trinken leitet? Etwas, das sich wehrt, wenn die Befriedigung des Grundbedürfnisses der individuellen Nahrungssicherung beschnitten werden soll?

Klotter: Die Angst vorm Verhungern begleitet die Menschen über ihre ganze Geschichte hinweg. Wir sind hier und heute in der historisch einmaligen Situation, dass wir nicht verhungern müssen, weil wir keine Hungersnöte mehr haben. Das gab es in einer so langen Periode noch nie zuvor. Dementsprechend gilt Fleisch immer noch als Garant fürs Überleben. Fleisch steht symbolisch für einen Lebensstil ohne Mangel, für Wohlstand. Dass das gekappt werden soll, wird unterbewusst als Existenzbedrohung wahrgenommen. Da wird an der Sicherheit gerüttelt. Bei sozial benachteiligten Familien kann man immer wieder feststellten, dass deren letztes Symbol, nicht sozial abzugleiten, der tägliche Fleischkonsum ist. Das ist eine Trutzburg, an der festgehalten wird.

Mühleib: Kommen beim aktuellen Shitstorm alte Vorurteile gegen den Vegetarismus wieder hoch.

Klotter: Vegetarismus passt gut zum Trend der Industriefeindlichkeit, steht für Natürlichkeit und Regionalität. Es gibt da viele unbewusste Gleichsetzungen. Da steckt einerseits eine Verheißung drin, anderseits steht Vegetarismus für Beschränkung und Askese. Dieses ambivalente Spannungsfeld lässt tatsächlich alte Vorurteile  gegenüber Vegetariern, den vermeintlichen Körnerfressern und Salatpickern, bei vielen wieder hochkochen.