Wir brauchen eine Ernährungsdiskussion.

Ist der Hunger wirklich der wahre Lebensmittelskandal, wie Prof. Joachim von Braun postuliert? Unter dem Titel „Die Welt ist hungrig“ kommt der Berliner Politikwissenschaftler Gerd Held heute in der WELT zum Schluss: „Ja, wir brauchen eine Ernährungsdiskussion, vielleicht sogar dringender als die Klimadiskussion. Aber sie darf nicht nur gehobene Ansprüche bedienen, sondern muss das Hauptproblem der kommenden Jahrzehnte bearbeiten. Dem Hunger einer wachsenden Welt kann man nicht mit ‚natürlichen‘ Lebensmitteln begegnen. Eine Agenda, die die angespannte Situation ernst nimmt, braucht mehr Eingriffe des Menschen und nicht weniger: mehr Agrartechnik, darunter auch einfache bezahlbare Mittel; mehr gentechnologische Verbesserungen; abfallärmere Wertschöpfungsketten; eine stärkere Differenzierung der Güteklassen; eine stärkere regionale Spezialisierung auf die Gegebenheiten von Boden, Klima und Landschaft.“

Helds Argumentation richtet sich gegen das Feindbild der „Ökos aus deutschen Landen, die um der Qualität willen fordern, Lebensmittel müssten teurer werden”. In einer Situation, in der die Kosten der Ernährung die Fortschritte der Entwicklungsländer bedrohen, so Held, brauchten wir bezüglich der Nahrungsmittelproduktion statt Weltverbesserung mehr nüchterne Vernunft im Denken und Handeln. Was darunter genau zu verstehen ist, beschreibt der Autor dann eher  vage und mit einer diffusen Terminologie. Womit soll man dem Hunger denn sonst begegnen, wenn nicht mit ‚natürlichen‘ Lebensmitteln? Mit Retortennahrung aus der Bakterienfermentation? Schließlich kommt er zu dem Schluss, Knappheit, sei das eigentliche Weltproblem der Ernährung, dessen Lösung er in der Perfektionierung konventioneller Agrar- und Gentechnologie sieht.

Damit liefert er nicht nur eine falsche Analyse (..Hauptproblem ist z.B. nicht etwa Knappheit – es sind genug Lebensmittel für alle da), sondern setzt zudem auf die alten Rezepte aus der Mottenkiste der Grünen Revolution. Hätte er sich doch bei Karl von Körber und Claus Leitzmann über „Welternährung: globale Nahrungssicherung für eine wachsende Weltbevölkerung“ schlau gemacht. Er hätte dort erfahren, warum technologische Fortschritte nur zu Verbesserungen führen, wenn global an der Veränderung der ökologischen, ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen im Sinne von mehr Nachhaltigkeit und Ernährungsökologie gearbeitet wird. Er hätte (hoffentlich) eingesehen, dass es mehr braucht als Agrartechnik, um den Hunger nachhaltig aus der Welt zu schaffen; dass es vor allem folgendes braucht:

● Verbesserung der Weltwirtschaftsbedingungen bzw. „Fairisierung“ des Welthandels, zur Beseitigung der Armut in Entwicklungsländern,

● angepasste landwirtschaftliche Erzeugungsmethoden in Entwicklungsländern und Vorrang für die Lebensmittelerzeugung für die einheimische Bevölkerung,

● langfristige Maßnahmen gegen den Klimawandel und dessen Auswirkungen, vor allem veränderter Lebensstil in den reichen Industrieländern,

● verantwortungsvoller Umgang mit den Wasserressourcen,

● Förderung der Bildung und Verbesserung des Status von Frauen,

● Umsetzung einer nachhaltigen Ernährung in Industrieländern bzw. Abkehr von „westlicher Wohlstandsernährung“, insbesondere Verminderung des Verzehrs tierischer Lebensmittel sowie die Verwendung von Erzeugnissen aus Fairem Handel

Ja, der Hunger ist also tatsächlich der wirkliche Lebensmittelskandal und Ja, wir brauchen tatsächlich dringend eine Ernährungsdiskussion – aber unter anderen Vorzeichen, als Gerd Held sie setzt.