Ulrike Gonder im Gespräch mit Dr. Friedhelm Mühleib

Seit dem Ausbruch der Krise ist es recht still geworden um das Thema Ernährung – von Berichten über das merkwürdige Einkaufsverhalten panischer Großstädter im Supermarkt einmal abgesehen. Selbstverständlich ernähren sich die Menschen weiter – doch anscheinend häufig auf der Basis „leerer“ Kalorien wie Mehl und Zucker. Frisches Gemüse und Obst waren zumindest nie ausverkauft während des Lockdowns. Dass unsere Nahrungsmittel unsere Heilmittel sein sollten, wie Hippokrates schon empfohlen hat, scheint in Vergessenheit geraten bzw. im Fall von Corona keine Rolle zu spielen. Diesseits von Nahrungsergänzungsmitteln in Megadosen und bedenklicher Wundermittel herrscht Ratlosigkeit in Bezug auf die Nahrung – sogar Vegetarier und Veganer scheinen verunsichert in Schockstarre zu verharren. In Schockstarre scheint sich auch ein ganzer Berufsstand zu befinden. Ernährungsberater und –therapeuten hüllen sich weitgehend in Schweigen; schauen erwartungsvoll auf die VertreterInnen der akademischen Ernährungswissenschaft, denen es allerdings bezüglich Corona ebenfalls die Sprache verschlagen hat. Wie sieht es mit Wirkungen und Wechselwirkungen von Corona und unserer Ernährung aus? Keiner traut sich, etwas zu sagen. Größer als die Furcht vor einer Coronainfektion scheint in diesen Kreisen nur die Angst davor, sich mit Aussagen, die noch nicht letztlich bewiesen sind, angreifbar zu machen und dafür vom Rest ihrer Community geteert und gefedert zu werden. Ulrike Gonder – Ernährungswissenschaftlerin, Autorin und Journalistin mit immer schon kritischem Blick auf ihre Zunft – fordert im Interview mit dem tellerrand die Szene zu mehr Mut in der Sache auf und dazu, sich endlich zu zeigen und zu den Menschen zu sprechen.

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                   Ulrike Gonder – Oecotrophologin, Autorin, Journalistin               (Photo: privat)

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tellerrand: In der aktuellen Diskussion über Corona kommt die Diskussion von Zusammenhängen mit der Ernährung allenfalls am Rande vor. Spielen Ernährungsfaktoren tatsächlich kaum eine Rolle?

Gonder: Ganz im Gegenteil – vom Übergewicht über die Mangel- und Fehlernährung bis hin zum Ernährungsverhalten der Menschen im Shutdown gibt es jede Menge Punkte, über die wir sprechen müssten. Als die Leute zu Beginn der Krise begannen, Berge von Weißmehl und Zucker, Nudeln und Dosenravioli zu horten, war mein erster Gedanke: Jetzt ist die Stunde der Ernährungsmedizin und Ernährungswissenschaft gekommen, jetzt wird unsere Expertise gebraucht. Und was kam? Gar nichts! Während Menschen fast panisch vor allem solche Lebensmittel hamsterten, die bis zum Beginn der Krise als ungesund galten, wäre es von Seiten unserer Experten doch wohl das Mindeste gewesen, auf ein paar wichtige Dinge hinzuweisen:

tellerrand: Woran denken Sie dabei?

Gonder: Man hätte den Menschen sagen müssen – so laut wie möglich: „Kauft gerade jetzt Lebensmittel mit hoher Nährstoffdichte, insbesondere mit reichlich Mikronährstoffen, die wichtig für unser Immunsystem sind: Vitmaine C, E, D, Zink aber auch Protein, um nur die wichtigsten zu nennen. Bevorratet TK-Gemüse und –Obst für die Truhe oder gute Obst- und Gemüsekonserven statt Zucker und Mehl. Die könnten Euer Immunsystem erfreuen. Haltet mit guter Nahrung, und Bewegung in der Sonne Euer Immunsystem fit.“ Was sich altbekannt und selbstverständlich anhört, haben die Menschen jetzt scheinbar vergessen. Dass es unseren Experten am Anfang die Sprache verschlagen hat, wäre vielleicht noch verständlich gewesen. Aber da ist bis heute nicht viel gekommen – abgesehen von vereinzelten KollegInnen aus der Praxis, die mit viel Eigeninitiative vorangingen.

tellerrand: Wie stehen Sie zu vermehrten Berichten und Studien, die Übergewicht und Adipositas als gravierenden Risikofaktor sehen? Während auch darüber hierzulande zwar immer häufiger in den Tagesmedien berichtet wird, hüllen sich Wissenschaft und Experten  eher in Schweigen.

Gonder: Aus China wurde schon früh berichtet, dass adipöse Patienten ein deutlich erhöhtes Risiko für schwere Corona -Verläufe haben. Wenn es um die vielzitierten „Vorerkrankungen“ geht, die ein erhöhtes Risiko bedingen, ist Adipositas inzwischen ganz vorne mit dabei. Es sind eben nicht nur die Menschen mit Krebs- oder Lungenerkrankungen. Wie wir jetzt an den Zahlen, insbesondere aus den USA, sehen, ist ein sehr hoher BMI nach dem Alter der zweitwichtigste Risikofaktor für einen schweren oder gar tödlichen Verlauf. Es geht aber nicht nur um Gewicht und BMI, sondern primär auch um den Körperfettanteil. Wir wissen, dass auch schlanke Menschen einen zu hohen Körperfettanteil haben können. Es spielt also nicht unbedingt eine Rolle, ob eine Person dick oder schlank aussieht, sondern ob er oder sie „überfett“ ist.

tellerrand: Die Bestimmung des persönlichen Risikos wird dadurch eher komplizierter…

Gonder: … wobei Stimmen aus der internationalen Forscherszene den „perfekten Sturm“ heraufziehen sehen, da sich zwei Pandemien überschneiden, wenn das Coronavirus auf viele Menschen mit Fettleibigkeit trifft. Tatsächlich ist ein hoher Körperfettanteil bei den meisten Betroffenen mit einer ‚silent inflammation‘ – einer niedriggradigen chronischen Entzündung verbunden. Das Immunsystem der Betroffenen steht dadurch permanent unter Stress, was im Falle einer Infektion mit Corona anscheinend Auslöser für das erhöhte Risiko schwerer Verläufe ist. Im gesunden Fettgewebe sind viele Immunzellen enthalten und aktiv und machen dort sozusagen ‚einen guten Job‘. Bei Adipositas ist auch die Funktion dieser Immunzellen gestört. Trifft ein Virus auf ein nicht intaktes Immunsystem, dann kann es zu der gefürchteten Hyperinflammation, den Zytokin-Sturm kommen. Fazit: Ein gesundes Immunsystem beschützt uns, und wenn wir zu viel Körperfett und zu wenig Mikronährstoffe und Protein haben, ist die Immunfunktion gestört.

tellerrand: Wenn dem so ist, muss das während einer Infektionswelle mit einem Virus natürlich dramatische Folgen haben. Nur leider ist niemand dazu in der Lage, sein Übergewicht nach einer Infektion mit Corona noch schnell loszuwerden. Im Grunde gibt es keine Möglichkeiten, das Risiko kurzfristig zu senken. Was also tun?

Gonder: Zunächst einmal kann es in keinem Fall darum gehen, die Dicken zu diskriminieren, das ist nicht meine Absicht. Im Gegenteil: Wir müssen über diese Risiken sprechen und den Betroffenen helfen. Und dabei auch selbstkritisch unser weitgehendes Versagen eingestehen: Bei der Bekämpfung der Adipositas hat unser Gesundheitssystem, haben auch wir als Ernährungsexperten bislang wenig Lorbeeren geerntet. Natürlich geht Abnehmen nicht von heute auf morgen. Und dennoch kann jeder jeden Tag etwas für seine Gesundheit tun – statt passiv und ängstlich auf Medikamente oder Impfstoffe zu warten! Das ist doch jetzt die wichtigste Botschaft: Dass wir uns durch eine gute, das heißt nährstoffdichte Ernährung und einen insgesamt möglichst gesunden Lebensstil ein gutes Stück weit schützen können. Das ist gelebte Prävention. Wir können nicht verhindern, dass wir uns ein Virus einfangen. Aber wir können etwas dafür tun, dass unser Immunsystem so fit wie möglich ist, um die Viren zu bekämpfen. Und wer das bisher noch nicht getan hat, kann sofort damit anfangen.

tellerrand: Welche Aufgabe käme dabei den Ernährungsfachkräften zu?

Gonder: Wer spricht denn mit Menschen über den Lebensstil? Die Mehrheit der Hausärzte ganz bestimmt nicht. Hier ist unsere Zunft doch gefragt! Aber es wird leider auch viel zu wenig untersucht und gemessen. Wer kennt denn seinen Vitamin-D-Spiegel oder seinen Aminosäure- oder Zinkstatus – alles wichtig zur Beurteilung des Immunsystems. Da werden Blutdruck und Cholesterin gemessen und dann nicht selten Medikamente verordnet, und das war’s. Deswegen müssen sich Ernährungswissenschaftler und Fachkräfte um die Lebensstilproblematik kümmern. Allen voran die Fachgesellschaften. Sie müssen konkrete Vorgaben machen: Wie eine gute Versorgung mit Mikronährstoffen sichergestellt werden kann, ob Intervallfasten sinnvoll ist, wie ein Diabetes besser eingestellt werden kann, denn auch der ist ein Risikofaktor für schwere Infektionsverläufe. Was ist z.B. mit denen, die ihren Job verlieren und wenig Geld haben? Die bräuchten unbedingt eine Anleitung, wie sie trotzdem auf ihre Mikronährstoffe kommen, wie sie günstig einkaufen und kochen können. Wo bleibt die große Pressemeldung der DGE: Lernt jetzt kochen und lasst Eure Nährstoffversorgung checken! Füllt unbedingt Eure Vitamin-D-Lücken auf! Wir wissen doch, dass die Bevölkerung grottig mit diesem wichtigen Immunmodulator versorgt ist, nicht nur die Altenheimbewohner! Es gibt zahllose Themen mit Relevanz in dieser Krise. Und dann lese ich in der aktuellen Pressemeldung: „10 Regeln der DGE jetzt auch in arabischer Sprache“. Das ist ja schön für arabisch sprechende Menschen – es kann aber jetzt doch nicht Priorität Nr. 1 sein.

Zur Person: Ulrike Gonder (Referentin, Autorin und Journalistin)

Ulrike Gonder ist Diplom-Oecotrophologin und als freie Wissenschaftsjournalistin, Autorin und Referentin tätig. Sie setzt sich seit vielen Jahren mit ihren oft streitbaren Thesen dafür ein, bei Ernährungsempfehlungen weg von starren Mustern zu kommen und neue Erkenntnisse stärker zu berücksichtigen und hat sich dabei unter anderem intensiv mit der Bedeutung von Fett in unserer Ernährung, Low Carb und ketogener Ernährung auseinandergesetzt. Hier einige ihrer wichtigsten Publikationen:

  • Der Keto-Kompass (systemed/Riva, München 2018)
  • Mehr Fett!: Warum wir mehr Fett brauchen, um gesund und schlank zu sein. (systemed/Riva, München 2010)
  • Ulrike Gonder bei Amazon

Kontakt: https://ulrikegonder.de, mail@ugonder.de, Blog: www.ugonder.de